Ein Brief aus New York

Joseph Strauss schrieb 1947 aus den USA einen Brief (1) an seinen Freund Hermann Kohlmann in Hünfeld:

 

Mein lieber Hermann und Familie!

Mit Deinem Brief hast Du mir eine große Freude bereitet, und war es schon lange meine Absicht, Dir denselben zu beantworten. Aber das Leben ist hier ganz anders, als wie wir es von draußen gewohnt waren.

Du mein lieber Hermann kannst versichert sein, daß Du noch heute, so wie es früher war, zu meinen besten Freunden zählst. Du hast es nicht nur mit Reden, sondern auch in der Tat bewiesen, daß Du auch in der schwersten Zeit immer zu uns gestanden hast. Ich bedauere sehr, daß Du die Nazizeit so schwer hast durchkosten müssen.

Joseph Strauss 1938
Joseph Strauss 1938

Meine Erlebnisse während der dreieinhalbjährigen Gefangenschaft, gäben ein großes Buch. Wenn ich ab und zu mal Artikel über Verbrechen im K.Z. in der Zeitung lese, so ist dies ein Bruchteil von dem, was wir leider in der Tat erleben mussten. Ich habe manchmal an der Menschheit gezweifelt und ich hätte nie geglaubt, daß so etwas möglich sein könnte. Ich gebe Dir nur mal ein kleines Beispiel von dem Unbeschreiblichen:

  

Als wir im Dezember 1941 in Riga ankamen, wurden am Bahnhof alle Männer bis 45 Jahre von uns getrennt. Sie kamen zum Barackenbau für das 17 km von Riga entfernte Lager Salaspils. Man hörte nichts von ihnen, denn jegliche Verbindung war mit Todesstrafe bedroht. Zwei Monate später wurden weitere 3oo Mann ausgesucht für dieses Lager, zu denen auch ich gehörte. Beim Abtransport sagte der Kommandant zur Beruhigung der Angehörigen, daß es dort doppelte Portionen gäbe. Jedoch bei unserer Ankunft waren wir davon überzeugt, daß es sich um ein Sterbe- und Vernichtungslager handelte. Unsere Leute, die wir dort noch lebend antrafen, waren nicht mehr zum Wiedererkennen. Würzburger, der Mann von Weinbergs Klara zählte bereits zu den Hungertoten, und ihr Bruder Sally war nur noch Haut und Knochen und konnte kaum noch sprechen und gehen. Bereits 14 Tage später brachten wir auch ihn hin zu den Vielen, die im nahe liegenden Wald nackt im Schnee lagen. Denselben Tod erlitten auch kurz hintereinander David Nußbaum und Abraham Levi, beide aus Burghaun, und noch so viele, viele Bekannte mehr. Es war dort eine Kälte von 45 Grad, sodaß die vielen Toten nicht beerdigt werden konnten. Erst nach Monaten wurde ein großes Loch gesprengt, in welches dann 12 Schichten übereinander gestapelt wurden.

Eines Tages wurde das Fehlen von 2 Lagerinsassen aus Brünn festgestellt. Es lag klar auf der Hand, daß diese Leute, welche dem Hungertod entgehen wollten, im Walde erfroren waren. Einige Tage später sollten für diese zwei Leute 2o Mann von uns erschossen werden. Wir waren bereits angetreten und harrten unseres Schicksals. Sturmbannführer Dr. Lange, ein bekannter Sadist, dem täglich durch seine Willkür viele unserer Leute zum Opfer fielen, ließ 2o Männer vortreten.

Scheinbar war ihm für die abgemagerten Gestalten die Kugel zu schade. Er ersann ein anderes Experiment. Umgeben war er von seinem Stab, von welchem er ständig begleitet wurde. Vor uns stand der Galgen, an welchem fast täglich wegen der geringsten Kleinigkeiten Leute erhängt wurden. An diesem wurde ein Mann als Geisel erhängt. Dann rief er aus: "Wer ist aus Brünn ?" Sofort trat ein 22 jähriger Student hervor. Der Unschuldige wurde auf einen Holzklotz gebunden und bekam 25 furchtbare Schläge auf den nackten Hintern, sodaß das Blut spritzte. Als der Unglückliche dann aufgehoben wurde und man ihm seinen Mantel anziehen wollte, rief der Mörder "Du brauchst keinen Mantel mehr" und feuerte auf ihn einen Genickschuss. Dies ist nur ein kleiner Ausschnitt aus dem Erlebten im Vernichtungslager Salaspils, in welchem innerhalb 6 Monate von 1500 Juden 897 im Massengrab begraben wurden. Der Rest von 6oo Mann kam als wandelnde Leichen zum Arbeitseinsatz zurück zum Ghetto Riga. Hiervon starben allerdings die meisten auch noch. Ich selbst war nur noch Haut und Knochen und wog kaum 90 Pfund mehr. Es ist als ein Wunder anzusehen, daß ich zu den wenigen zählte, die sich wieder erholten. Was wir dann noch alles bis zu unserer Befreiung erlebten und durchmachen mußten, ist gar nicht auf Papier zu bringen. Wir standen immer mit einem Bein im Grabe und hatten mit dem Leben abgeschlossen.

Nun zu Dir, lieber Hermann. Ich hoffe, Du wirst Dich jetzt gesundheitlich erholt haben und wieder besser fühlen, was ich Dir sehr wünsche. Auch wir haben uns nach all dem Schweren und großen Verlusten, die wir erlebt haben, seitdem wir Hünfeld verlassen mußten, hier einigermaßen eingelebt. Unsere Freunde, Geschwister und Bekannte haben alles aufgeboten, um uns wieder auf die Beine zu helfen. Augenblicklich macht mir hier die Witterung viel zu schaffen, denn die feucht-warme Luft, die hier in New York ist, ist nicht so leicht zu ertragen. Gesundheitlich bin ich, auch meine Familie G.s.D. (Gott sei Dank) zufrieden und will ich auch nicht klagen, wenn ich jetzt wieder von vorn anfangen muß.

Ich arbeite seitdem ich in New York bin in einer Importfirma, welche den Alleinvertrieb für USA in Thorens Fabrikate hat. Ich bin dort in der Repairabteilung beschäftigt und habe mich bis zum Chaker/Prüfer bereits emporgearbeitet. Ausser der Versandtabteilung, welche täglich die Fabrikate nach allen Staaten in USA verschickt, werden täglich in der Repairabteilung über 500 Feuerzeuge in Ordnung gebracht und dem Eigentümer größtenteils kostenlos wieder  zugesandt. Momentan haben wir allein einen Bestand von über 10Tausend Repairs. Dementsprechend kann man das Lager an Neufabrikaten beurteilen.

So reihen sich hier Millionen von Geschäften und Fabriken aneinander. Es heißt nicht unberechtigt, Amerika ist das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Hier sieht man wirklich alles auf das Praktischste und Schönste, in Hülle und Fülle.

So, lieber Hermann, ich hoffe Du wirst mir bald mal wieder einen ausführlichen Brief senden. Auch mit den Zeilen Deiner lieben Frau haben wir uns sehr gefreut. Meine Frau beauftragt mich, Euch alle herzlich zu grüßen. Sie näht Damen-Lederhandschuhe und hat sich auch sehr gut eingearbeitet.

Grüße Deine liebe Familie und sei Du, lieber Hermann, aufs herzlichste gegrüßt

von Deinem Freunde Joseph.

 

 

Anmerkung:

1) Brief von Joseph Strauss an Hermann Kohlmann in Hünfeld: Sammlung Elisabeth Sternberg-Siebert (Original-Kopie: Magistrat der Stadt Hünfeld)

 zurück ...