Christlicher Antijudaismus, ein Wegbereiter des Antisemitismus
Von Martin H. Siebert
Abraham erkennt Gott als den EINEN
Hass auf Außenseiter ist eine allgemeine Erscheinung in der menschlichen Gesellschaft; Antisemitismus ist einzigartig. Er ist einzigartig wegen seines Ursprungs, seiner Intensität und Dauer. Diese Feststellung macht Joel Charmichael in seiner Studie ”Die Satanisierung der Juden”.
Ungefähr um das Jahr 2000 vor Christus, so wird es im Alten Testament -dem jüdischen Schriftgut der Bibel- erzählt, wendet sich der Erzvater Abraham vom Polytheismus und der Anbetung von Idolen ab. Durch persönliche Glaubenserfahrungen, Beobachtung der Umwelt und durch eine kritische Betrachtung der religiösen und kultischen Gebräuche von Menschengruppen und Stämmen, mit denen er in Berührung kam, erwachte in ihm ein Bewusstsein, das schrittweise zum Monotheismus führte. Abraham begegnet uns als ein Mensch, der seinen Glauben auf einen einzigen, allmächtigen und alles umschließenden, allwissenden und unsichtbaren Gott gründet. Damit steht er in unversöhnlichem Kontrast zu den anderen Religionen seiner Zeit. Der Gott Abrahams zeigt sich als EINER, der von der bestehenden Vielgötterei, von Idolen, als Götter verehrten Herrschern und Herrschaftszwängen befreien will. Die Hoffnung der Menschen auf diese Befreiung und die Hinführung zum Glauben an den einen, wahren, liebenden, gnädigen, gerechten und richtenden Gott hat in der Geschichte Abrahams, Isaaks und Jakobs ihren religiösen Ursprung. Er ist der Gott, der von den Menschen fordert, die mannigfaltigen Ketten der ach so menschlichen Zwänge wie Hass, Vorurteil und Überheblichkeit, Lieblosigkeit, Ungerechtigkeit und dergleichen mehr zu sprengen und sich ihm zuzuwenden. Von Anfang an offenbart sich dieser eine Gott, der größer ist als der Mensch, dessen Herrscher und Peiniger, als Anwalt der Unterdrückten, Armen und Benachteiligten.
Wer einen solchen Gott verkündigt, der muss mit größtem Widerstand der Herrschenden rechnen! In der Tat hat die ”Welt” den Juden nie verziehen, diese Begegnung mit dem einen Gott ermöglicht zu haben, denn seine fundamentalen Forderungen nach Nächstenliebe, Freiheit und Frieden mit Gerechtigkeit sind nach wie vor unerfüllt. Die Juden –nicht weil sie bessere Menschen wären als der Rest der Menschheit- haben uns bis auf den heutigen Tag durch ihre bloße Existenz diese Forderungen Gottes klar vor Augen gestellt. Hierfür wurden sie ebenso klar ins Abseits gestellt, verfolgt, verleumdet, gehasst, millionenfach ermordet – und noch immer sind Hass und Verleumdung nicht vergangen. An diesen Zusammenhängen ändert auch die teils fragwürdige Politik des heutigen Staates Israel, die nicht selten als Scheinargument verwendet wird, nichts.
Verteufelung der Juden durch die Kirche
Die innerjüdischen Auseinandersetzungen zur Zeit Jesu, an denen der Wanderprediger aus Galiläa regen Anteil hatte, schlagen sich dann im Schriftgut des Neuen Testaments schon zum Teil als ausgesprochene Judenfeindschaft nieder. Sie wird im stark hellenistisch beeinflussten Christentum des zweiten Jahrhunderts zum Judenhass, der zwei Hauptmotive enthält: Die Juden als Ausgeburten der Hölle und als Gottesmörder.
Die christliche Theologie der frühen Kirche hatte ihr Konzept des Universums zweigeteilt. Der Welt Gottes stellte sie die Welt des Teufels gegenüber. Und da die große Mehrzahl der Juden ihren Stammesbruder Jesus von Nazareth nicht als den lange angekündigten Messias, das nach christlicher Auslegung fleischgewordene Wort Gottes, anerkennen konnten, wurden sie vom Christentum seit dem zweiten Jahrhundert an die Seite des Teufels gestellt. So setzte sich die Auffassung durch, dass die Christen Söhne und Töchter Gottes, die Juden aber Söhne und Töchter des Teufels seien. Das Wort im Evangelium des Johannes (Kapitel 8 Vers 44) ”Ihr seid von dem Vater, dem Teufel, und nach Eures Vaters Lust wollt ihr tun” sollte in seiner falschen und aus dem Kontext herausgerissenen Interpretation das Geschick der Juden durch die Jahrhunderte begleiten.
Von gleichfalls fundamentaler Bedeutung ist die Verleumdung der Juden als Gottesmörder, zuerst vom christlichen Bischof Melito von Sardes im zweiten Jahrhundert schriftlich fixiert. Auch der Kirchenvater Chrysostomos –genannt der Goldmund- bezeichnet in seinen judenfeindlichen Predigten gegen Ende des vierten Jahrhunderts die Synagoge als Versammlungsort der Gottesmörder, ein Ort, schlimmer als ein Bordell, Tempel der Dämonen und Höhle des Teufels. Sein Verdikt über die Juden: “Gott hasst euch und hat euch ein für allemal verworfen." Diese Verleumdungen und Verdammungen finden ihren Widerhall auf Synoden und Konzilen der Kirche bis hinein ins 20. Jahrhundert.
Leider hat auch der Reformator Martin Luther seine Beiträge zum Judenhass geliefert. Gegen Ende seines Lebens verfasste er seine judenfeindlichen Schriften, in denen er die Juden als teuflische Rasse bezeichnet, als schwere Bürde, eine Plage und Pestilenz, ein Unglück für Deutschland. Ihre Synagogen und Schulen solle man niederbrennen zur Ehre unseres Herrn und der Christenheit. Ist es da verwunderlich, dass sich Julius Streicher, der Herausgeber des Hetzblattes “Der Stürmer” im Nürnberger Prozess 1946 auf Luther berief und behauptete, die Nationalsozialisten hätten schließlich nur ausgeführt, was Luther schon vor 400 Jahren gefordert habe? Ja, an Luthers 455. Geburtstag, am 10. November 1938, loderten die Synagogen in “Großdeutschland”. Es war mein sechster Geburtstag, und ich habe eine dunkle Erinnerung daran, wie auch in Burghaun die Synagoge brannte. Martin Sasse, der damalige evangelische Bischof von Thüringen, sah in der “Kristallnacht” ein besonderes Geschenk zu Luthers Geburtstagsfeier!
Der Boden war gut vorbereitet, die Wurzel ausgerissen
Wir können uns drehen und wenden wie wir wollen – als Christen müssen wir aus der Geschichte lernen, dass die Shoa, der Holocaust des 20. Jahrhunderts, an Schreibtischen geplant und mit tiefster Menschenverachtung von zumeist als Christen getauften Menschen ausgeführt, zu einem nicht geringen Teil mit dem christlichen Antijudaismus in direktem Zusammenhang steht. Dieser hatte im Verlauf der Jahrhunderte den Boden gut vorbereitet, auf dem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der rassistische Antisemitismus, der dann im dritten Reich zur Grundlage für die “Endlösung der Judenfrage” wurde, blühen und gedeihen konnte. Die Antisemiten des 19. und 20. Jahrhunderts folgten dem von Kirche und Theologie fest eingetretenen Pfad, wenn auch mit anderen Mitteln und einer anderen Ideologie. Der katholische Theologe Hans Küng schreibt in seinem Buch “Das Judentum”, dass der rassistische Antisemitismus, der im Holocaust gipfelte, nicht möglich gewesen wäre, ohne die Vorgeschichte des religiösen Antijudaismus der christlichen Kirche, der sich von der Synode zu Elvira im Jahr 306 über das Konzil von Basel im Jahr 1434 bis ins 20. Jahrhundert hinein erstreckt.
Im vierten Kapitel des Johannesevangeliums, Vers 22, wird Jesus das Wort zugeschrieben: “Ihr wisset nicht, was ihr anbetet, wir wissen aber, was wir anbeten, denn das Heil kommt von den Juden.” Dieser Jesus war Jude, lebte und lehrte als Jude, starb als Jude, und diejenigen, die ihn im Glauben als den Auferstandenen erfuhren, waren davon überzeugt, dass er der jüdische Messias war. Eine unjüdische und judenfeindliche Christuslehre der frühen Kirche, die bis heute noch auf eine grundlegende Revision wartet, entzog Jesus dem Judentum, obwohl doch der Apostel Paulus im Römerbrief Kapitel 11 sehr deutlich sagt, dass nicht wir Christen die Wurzel tragen, sondern von der Wurzel getragen werden.
Burghaun ist das Dorf meiner Kindheit und Jugend, in dem ich auch einige Jahre als Pfarrer amtieren durfte. Es verbinden mich herzliche menschliche Kontakte am Ort, und es verbindet mich die Geschichte und das Geschick der Menschen, die dort lebten. Doch in besonderer Weise fühle ich mich denen verbunden, die in der Shoa ermordet wurden, nur weil sie Juden waren, Brüder und Schwestern des Juden Jesus von Nazareth. Marga Stern und ihre Brüder Samuel und Markus waren etwa in meinem Alter. Ich durfte leben, sie wurden in Auschwitz ermordet. Stellvertretend für all die anderen denke ich an sie und befehle sie der Liebe des Ewigen, unseres gemeinsamen Gottes.
Meiner Schwester Elisabeth Hochachtung und Dank für das vorliegende Buch, dem ich aufmerksame und vorurteilsfreie Leser wünsche. 1)
Big Timber, USA,
im Advent 2000
Martin H. Siebert
Anmerkung
1) Dieser Aufsatz entstand als Vorwort zum Buch von Elisabeth Sternberg-Siebert "Jüdisches Leben im Hünfelder Land - Juden in Burghaun"