Frau Elisabeth Zentgraf erinnert sich

Hünfeld, im März 2009

 

Elisabeth Zentgraf geb. Dietz, Jg. 1925, Tochter von Adolf und Rosa Dietz, verheiratet mit dem Müller Ludwig Zentgraf (verstorben 2008), Sohn des Müllers Anton Zentgraf (damals Hauptstraße 90, heute am Goldrain). Adolf Dietz hatte ein Friseurgeschäft im Haus von Josef Abel in der Bahnhofstraße 187, direkt neben der Familie Julius Nußbaum, Bahnhofstraße 188. Rosa Dietz war Weißnäherin und nähte u. a. auch bei jüdischen Familien in Burghaun. Die Familie lebte im Haus Abel zur Miete, bis Adolf Dietz etwa 1942 ein eigenes Haus am Niedertor (heute Nr. 12) erwerben konnte. Der Frieseurladen existiert bis heute dort.

Elisabeth Zentgraf 2009
Elisabeth Zentgraf 2009

"Wir hatten schon immer ein sehr gutes Verhältnis zu den Nußbaums gehabt, gegenseitig, dadurch dass die Mutter die Nußbaums von Kind an kannte und mein Vater auch. Die waren ja Hünfelder, und Nußbaums waren auch schon ewig in Hünfeld. Wir wohnten direkt neben denen, vorne zur Straße war das Friseurgeschäft und hinten hinaus haben wir die Wohnung gehabt. Ich weiß noch, meine Mutter hat für die Nußbaums immer so kleine Kopfkisschen, also Kissenbezüge, genäht aus richtigem Leinen.

Der Nußbaum hat mit Getreide gehandelt. Mein späterer Schwiegervater, der Anton Zentgraf, der hat mit ihm Geschäfte gemacht. Der Nußbaum hat gesagt: "Anton, ich hab so viel Getreide da liegen - Gerste, Hafer, Korn - das kannst Du haben, brauchst du welches?".

Mein Vater war übrigens sehr befreundet mit dem Joseph Strauss, das war eine richtige Freundschaft. Wir haben auch da hinten beim Joseph eingekauft für die Familie. Der Joseph Strauss hat ja alles gehabt, was man brauchte: Lebensmittel, Obst - Beeren in der Heidelbeerzeit und Zwetschen in der Zwetschenzeit, alles. Auch der Julius Nußbaum hatte das, handelte auch mit Heidelbeeren und Zwetschen in der Saison. Der hat das groß angekauft und wieder verkauft, auch Gemüse und anderes, es war ja ein Großhandel. Eier konnte man auch dort kaufen. Ich weiß, dass uns die Mutter manchmal rübergeschickt hat: "Hol doch mal 10 Eier!" Das hat sich alles da hinten in dem Lagerhaus abgespielt, wo auch das Büro war.

Blick vom Goldrain um 1979, von links: Sportgeschäft Becker, frühere Metzgerei Kaufherr, rechts dahinter früheres Lagerhaus der Firma Nußbaum, früheres Wohnhaus der Familie Julius Nußbaum, Haus Josef Abel

(Foto: Privatbesitz

Elisabeth Zentgraf)

Der Julius Nußbaum hat gerne geraucht. Aber später in der Kriegszeit gab es keine Zigaretten und nichts mehr zu rauchen. (1) Da haben wir - meine jüngeren Geschwister und ich - hier unten an der Hasel Blätter von den Kletten gesammelt und getrocknet. Meine Mutter hat Dörrzwetschen gehabt, die haben wir in die trockenen Blätter reingewickelt und dann liegen lassen bis alles schön durchgezogen war. Nachher haben wir die Zwetschen wieder rausgenommen und die Blätter ganz fein geschnitten und in ein Tütchen reingetan. Das hat der Herr Nußbaum dann in der Pfeife geraucht, als Tabak, das war sein Ein und Alles. Da war der Mann glücklich, ganz begeistert von dem Tabak, den wir ihm gemacht haben.

Es war in der schweren letzten Zeit gewesen 1941/42. Unten im Parterre hat der Emil Abel gewohnt, der hatte das Haus gekauft und untervermietet. Im ersten Stock hat die Frau Vaupel gewohnt mit Mann und zwei oder drei Kindern. Im zweiten Stock hat die Frau Pickert gewohnt, eine Kriegswitwe mit drei Kindern, und oben unter dem Dach, ach Gott, da lebten ganz armselig und spärlich möbliert die alten Nußbaums. Dort war ja gerade nur ein Dachfenster, und alles war schräg. Ich war immer nur in einem Zimmer, ich weiß nicht, ob es da noch ein anderes gab, aber ich glaube nicht.

Nachts um 12 Uhr wurden die Gaslaternen in Hünfeld ausgemacht, deshalb konnte ich erst nach dieser Zeit die Nußbaums besuchen. Die Gaslaterne hat nämlich die Straße und den Bürgersteig so beleuchtet, dass man mich sehen konnte. Nach 12 Uhr in der Nacht bin ich dann immer zu den zwei Leuten geschlichen, von Haustür zu Haustür auf Socken. Ich hatte einen Haustürschlüssel vom Herrn Nußbaum- das war so ein großes Ding. Wenn mir da einer entgegen gekommen wäre -ich war damals höchstens 17 Jahre alt- ich hätte den Schlüssel genommen und auf ihn eingeschlagen.

 

"Von Haustür zu Haustür" – links Nußbaum rechts Friseur Dietz, davor deutlich zu erkennen: Die Gaslaterne, die den Bürgersteig bis 12 Uhr nachts hell erleuchtete.
(Original des Fotos: Privatbesitz H. Becker. Das hier gezeigte Bild ist eine Bearbeitung des Originals, auf welchem im Vordergrund die alte Frau Becker steht)

Ich habe die beiden Nußbaums mit allerlei Lebensmitteln versorgt: Ein Stückchen Wurst, Butter oder Margarine, was die Mutter so hatte, mal ein Glas Zwetschenmus, ein Glas Gelee, mal ein bisschen Rindfleischsuppe für die beiden alten Leute.

Der alte Herr Nußbaum hat morgens arbeiten müssen. Morgens ist er in die Stadt -mit dem Judenstern an der Jacke- und hat arbeiten müssen, so Gärtnerarbeiten am Friedhof, irgendwas für die Stadt Hünfeld. Und dann konnte er das gar nicht mehr, er war so gebrechlich und krank. Der war fertig und war dann zu Hause, er konnte nicht mehr arbeiten.

Ich bin also immer zu Nußbaums hoch und habe ihnen Lebensmittel gebracht und habe mit ihnen gesprochen. Die Nazis hatten alles geholt bei Nußbaums. Was sie noch besaßen war etwas Silber und ein paar andere Sachen. Einmal sagte die Frau Nußbaum zu mir: "Fräulein Dietz, ich mach das alles fertig und Sie nehmen das mit nach Hause, wenn der Semmy kommt, kann er sich das mitnehmen. Unter anderem war ein Tischleuchter dabei, so ein großer Leuchter mit zwei silbernen Muschelschalen. Und mittendrin war eine Kristallvase. Das war ein schweres Stück, bis ich das heim geschleppt hatte die Treppe runter! Und ich musste doch leise und ganz vorsichtig gehen mitten in der Nacht.

Und das Schönste! Ich komme runter, schließe die Haustür zu, da ruft mir einer zu: "Morgen kommst Du ans schwarze Brett!" (2) Und wer war es? Der gute Nachbar B.!

Ich habe den Leuchter also heimgebracht, und meine Mutter sagte: "Was willst Du denn damit?" Ich habe ihr erklärt, dass mir das die Frau Nußbaum gegeben hat und dass ich es aufbewahren soll bis der Semmy aus dem Krieg kommt. Es wäre ein Familienstück, das er mitnehmen soll. Der Semmy kam auch wirklich nach dem Krieg als amerikanischer Soldat und hat es mitgenommen. Ich lag gerade im Krankenhaus, meine Mutter hat ihm alles gegeben.

Ja, der gute Nachbar B. - Dem musste ich immer mittags seine zwei kleinen Kinder versorgen. Seine Frau war gelähmt und lag im Bett. Er ging in die Ziegelei zur Arbeit, und danach ist er mit den Kühen aufs Feld gefahren. Ich habe natürlich zu Hause geheult und meiner Mutter erzählt, dass mich der B. erwischt hat und dass ich ans schwarze Brett kommen soll. Da meinte meine Mutter, ich soll zu ihm hingehen und sagen: "Ja, ich war da gewesen, die Nußbaums sind praktisch am Verhungern. Kannst Du da zusehen? Wir nicht als Nachbarn! Und wenn du meinst, du müsstest mich ans schwarze Brett bringen, dann tu's, aber Deine Kinder versorgst du Dir mittags selber, ich packe keine Kinderscheiße mehr an." So habe ich dem das gesagt, und er darauf: "Das habe ich ja nicht so gemeint, ich habe doch niemanden für die kleine Hildegard. Du musst mir doch das Kind ausfahren."

Vorbeimarsch der SA an den Häusern (v.re): Pommranz (heutige Bewohner, Niedertor 1), Josef Abel/Friseur Dietz (Bahnhofstr. 187) und Julius Nußbaum (Bahnhofstr. 188)

(Foto: Privatbesitz H. Becker)

Ja, der gute B., der hat mich dann nochmal erwischt, da hat er gemeint: "Und heute bist Du reif." Ich habe zu ihm gesagt: "Ich habe Dir doch gesagt, was ich mache. Außerdem kommen die Leute sowieso jetzt fort, die Gestapo holt sie ab. Wenn die Nußbaums nicht mehr hier sind, dann gehe ich auch nicht mehr da die Treppe hoch."

Die Nußbaums hatten mir beim letzten Besuch gesagt: "Es kann sein, wir sind morgen schon weg." Die Frau Nußbaum hatte es immer mit den Kopfkisschen, eins für sie und eins für ihn: "Dass wir noch ein Kopfkisschen unter dem Kopf haben, dass man sich wenigstens auf ein Kopfkisschen legen kann". Sie wussten gar nicht den genauen Zeitpunkt, aber sie wussten, dass sie wegmüssen. Der Herr Nußbaum hat sich so inständig von mir verabschiedet, das kann ich gar nicht beschreiben, das steht mir heute noch vor Augen. Er hat mir beide Hände gegeben, und die Tränen liefen ihm die Backen runter: "Fräulein Dietz, ich wünsche Ihnen so viel Glück in Ihrem Leben, mehr als Sie gebrauchen können." Er hat bitterlich geweint und ich mit und die Frau Nußbaum auch. Sie waren zwei liebenswerte Menschen. Ich habe ihnen sogar noch Karten mitgegeben, Ansichtskarten von Hünfeld mit unserer Anschrift und Briefmarken drauf. Der Herr Nußbaum wollte gern Karten haben und einen Stift, damit er schreiben konnte, wo sie sind. Aber wir haben nie wieder etwas von ihnen gehört.“ (3)

 

Letztes Lebenszeichen von Julius und Ida Nußbaum kurz vor ihrer Deportation nach Theresienstadt
Letztes Lebenszeichen von Julius und Ida Nußbaum kurz vor ihrer Deportation nach Theresienstadt

 

Diese teilweise Abschrift des Originals (Sammlung Christian Aschenbrenner) gibt Rätsel auf: Es ist unbekannt, welchen Freunden das Schreiben übermittelt wurde. Ebenfalls weiß man nicht, wie, wann und wo sich die Eheleute Nußbaum mit dem am Schluss genannten August Weise aus Frankfurt (evtl. wegen der Luftangriffe evakuiert und im Haus einquartiert ?) befreunden konnten. Tatsache ist, dass sie am 7. Sept. 1942 von Kassel aus nach Theresienstadt deportiert wurden. Der Zubringer-Zug nach Kassel fuhr am 5. Sept. um 15.50 Uhr am Bahnhof Hünfeld ab. Mit diesem Zug wurden die letzten Juden aus dem Altkreis Hünfeld abtransportiert, unter ihnen müssen auch Julius und Ida Nußbaum gewesen sein. (4)

--------------------------------

zurück ...

Anmerkungen:

  1. Die Firma Nußbaum musste bereits 1937/38 geschlossen und verkauft werden.
  2. Im Hünfelder Kreisblatt gab es in der Nazizeit die Rubrik „Schwarzes Brett der Partei“, an dem Menschen öffentlich angeprangert wurden, die noch freundschaftliche oder geschäftliche Beziehungen zu Juden unterhielten.
  3. Dieser letzte Besuch muss Anfang September 1942 gewesen sein, Frau Zentgraf erinnert sich, dass es Spätsommer oder Herbst war.
  4. Vgl. Elisabeth Sternberg-Siebert: Jüdisches Leben im Hünfelder Land - Juden in Burghaun 2. Aufl. 2008, S. 155.
    Das Interview mit Frau Zentgraf wurde von E. Sternberg-Siebert vom Tonband transkribiert und der Text leicht bearbeitet.

nach oben ...