Aus dem NS-Alltag in Wehrda
Von Elisabeth Sternberg-Siebert
„Bericht über Vorkommnisse in Wehrda“
Die Gendarmen Wolf und Schulz verfassten am 1. August 1934 folgenden Polizeibericht, der einige Tage später auch dem Landrat in Hünfeld vorlag:
"Am 31. 7. 1934 anlässlich meines gestrigen Dienstganges wurden mir von dem Viehhändler Julius Katzenstein in Wehrda folgende Vorgänge, welche sich in den letzten 3 Wochen in Wehrda ereignet haben und nur die jüdische Bevölkerung betroffen hat, mitgeteilt.
- Vor etwa 3 Wochen ist mittels Hochsteigen einer Leiter durch ein kleines offen stehendes Fenster der Synagoge in dieselbe eine stark stinkende Flüssigkeit (anschein. Bremsenöl) gegossen worden, um hierdurch den Aufenthalt in der Synagoge zu verhindern.
- Weiter wurden in der Nacht vom 12. zum 13. Juli 34 dem Wolf Plaut IV drei große Fensterscheiben eingeworfen.
- In der Nacht vom 17. zum 18. Juli 34 wurden dem David Simon eine Fensterscheibe eingeworfen.
- In der Nacht vom 17. zum 18. Juli 34 wurden dem Julius Katzenstein vier Fensterscheiben eingeworfen, und zwar mit ziemlich großen Steinen.
- In der Nacht vom 21. zum 22. Juli wurden dem Wolf Plaut III eine Fensterscheibe und in der Nacht vom 26. zum 27. Juli 34 zwei große Fensterscheiben eingeworfen.
- Weiter wurde in der Nacht vom 26. zum 27. Juli 34 an der jüdischen Schule, welche an der Synagoge angebaut ist, ein Fenster vollkommen und an einem anderen Fenster eine große Fensterscheibe zerschlagen. Weiter wurde in die jüdische Schule durch das vollkommen zerstörte Fenster eine Menge Steine, Erde und Dung hineingeworfen.
Von den Tätern fehlt bis jetzt jede Spur. Die jüdische Bevölkerung, hauptsächlich die Frauen, befinden sich durch die planmäßige Zerstörung von Fenstern usw. in starker Aufregung, so dass sie teils darauf krank werden. Es wäre hier nur folgendes Exempel am Platze –denn sonst werden diese planlosen Zerstörungen kein Ende nehmen- dass durch die Behörde angeordnet wird, dass die jeweiligen Kosten, welche hierdurch den Betroffenen entstehen, die Gemeinde zu zahlen hat.
Weiter berichte ich, dass die jüdische Bevölkerung deshalb keine Anzeige bei der Polizei erstattet, weil sie weiter befürchten, dass ihr noch mehr Schaden an den Häusern usw. zugefügt wird.“
Der aus ehrlicher Empörung gemachte Vorschlag der Polizisten, die Gemeinde für die Schäden aufkommen zu lassen, wurde natürlich nicht realisiert. Auch hörte das Fenstereinschlagen in der Folgezeit nicht auf, obwohl der Polizeipräsident in Kassel wiederholt anordnete, die Übergriffe aufzuklären und die Täter zu ermitteln. Den Methoden der Rowdys stand die Ortspolizei allerdings oft ziemlich hilflos gegenüber, denn wie in Rhina, wird es auch an anderen Orten üblich gewesen sein: „Auf meinen Dienstgängen“, so berichtete ein Polizist, „habe ich schon öfters feststellen können, dass sich die dortige Jugend bis spät in die Nacht hinein in den Straßenein- und Ausgängen aufhält und durch Pfiffe verständigt sobald man erblickt wird.“
Die Nazipartei nahm Einfluss auf die geschäftlichen Verbindungen zwischen den jüdischen Händlern und ihren christlichen Kunden. Im Klartext: Parteigenossen, die bei Juden in der Kreide standen, wollten nicht bezahlen und forderten ihre Schuldscheine zurück.
Aus Angst unterschrieben
Die Witwe des Metzgers Fritz Plaut in Wehrda, Sophie Plaut geb. Jungheim, war im November 1935 finanziell nicht mehr in der Lage, ihre Umsatzsteuer zu bezahlen. Sie hatte aber noch mehrere Außenstände säumiger Kunden, die einfach nicht einzutreiben waren. Offensichtlich glaubten manche „Volksgenossen“, dass man im Nationalsozialismus den Juden gegenüber keine Zahlungsverpflichtungen mehr habe. Auch der Bahnarbeiter B. in Rothenkirchen stand mit einer größeren Summe für Fleischlieferungen in den Jahren 1929 bis 1931 bei ihr in der Kreide. Trotz wiederholt zugesandter Rechnungen und Mahnungen hatte er bis auf einen kleineren Betrag nicht gezahlt. Auch das mehrfache Vorsprechen von Isaak Jungheim, des Bruders von Frau Plaut, blieb ohne Erfolg. B. machte zwar Versprechungen, aber er leistete keine Zahlung.
Als die Witwe Plaut schließlich einen Vollziehungsbeamten im Hause hatte, trat sie die von dem Bahnarbeiter B. geschuldete Summe an das Finanzamt ab, welches diesem eine Verpfändungsverfügung zustellte.
Darauf begab sich B. nach Wehrda, um die Angelegenheit in seinem Sinne zu regeln. Er bedrängte die Witwe länger als eine Stunde und drohte ihr mit Anzeige und dem Eingreifen der Partei, wenn sie den Schuldbetrag im Kontobuch der Metzgerei Plaut nicht streiche. Schließlich sah die verzweifelte Frau keinen anderen Ausweg mehr, als auf die Forderungen des B. einzugehen. Sie unterschrieb aus Angst, zumal sie allein in der Wohnung war, auch die von B. gefertigten Bescheinigungen, wonach dieser seine Schulden beglichen und die Witwe Plaut bis auf 15.- RM keine Forderungen mehr zu erheben hätte. Frau Plauts Bruder Isaak Jungheim, den sie wohl nach seiner Rückkehr sofort ins Vertrauen zog, erstattete Anzeige wegen Erpressung.
Wie man sich bereits denken kann, wurde das Verfahren eingestellt, da dem Beschuldigten angeblich eine strafbare Handlung nicht nachzuweisen war. 1)
Anmerkung:
1) Elisabeth Sternberg-Siebert: Jüdisches Leben im Hünfelder Land - Juden in Burghaun, Michael Imhof Verlag, Ausgabe 2001, S. 48 - Ausgabe 2008, S. 50