Familie Sally und Klara Plaut
"Von meinem Elternhaus drei Häuser weiter entfernt in der Hohenwehrdaer Straße Nr. 4 wohnten sie. Früher war es die Hausnummer 57. Im Jahre 1937 wurde das Haus von Heinrich Trausch gekauft. Plauts hatten auch noch einen Garten dort in der Kurve nach Hohenwehrda, den hat die Trausch Familie auch gekauft.
Die Familie Plaut zog mit ihrem Sohn Werner nach Amerika. Werner war 1924 in Wehrda geboren und ging noch in die Volksschule in Wehrda bis 1933. Er war vier Jahre jünger als ich. Seine Mutter Klara, geborene Stern, war in Züntersbach bei Bad Brückenau geboren. Die Familie Plaut hieß mit Dorfnamen 'Kaolines'. Die Großmuter von Sally hieß nämlich Karoline, genannt Golde. Der Großvater Ruben Plaut war 1821 geboren.
Grab von Karoline Plaut geb. Sommer
24. Aug. 1831 – 23. Juni 1895
Foto: E. Sternberg-Siebert
Grabstätte von Ruben Plaut
21. Dez. 1821 – 5. April 1909
Foto: E. Sternberg-Siebert
Die Eltern von Sally waren Wolf Plaut, geboren im Jahr 1860 (gest. 1920), und Hannchen Plaut geborene Goldschmidt (gest. 1917). Der Sally Plaut hatte auch einen Uznamen im Dorf. Er war ein gesetzter Mann, ging schon gebückt und streckte dabei den Hintern etwas mehr heraus, deshalb hatte er den Spitznamen 'Entena'.
Die Plauts hatten ein Lebensmittelgeschäft und noch mehrere andere Sachen zum Verkaufen. Über der Eingangstür hing ein großes Schild mit der Schrift "Kolonialwaren Handlung von Sally Plaut". Er hatte ein mittelgroßes Pferd, einen Fuchs mit einem hellen Schweif. Damit fuhr er mit einer Kutsche über Land zum Verkauf seiner Ware. Unter dem Teil, wo sonst die Sitze waren, hatte er seine Lebensmittel verstaut. Diese waren überdacht, damit sie trocken und kühl blieben. Die Kutsche hatte unter dem Vorderteil einen Drehkranz zum Lenken. Das Pferd wurde in eine Schere eingespannt. Man durfte aber bei den Kutschen nicht zu kurz herum fahren, da erhob sich nämlich die ganze Kutsche. Einmal hatte das Pferdchen auf der Straße nach Hohenwehrda beim zweiten Grasweg gescheut, als die Baronin von Kleydorff vom Schloss Hohenwehrda mit ihrem kleinen BMW Dixi, der von ihrem Gärtner Karl Bach gefahren wurde, entgegen kam. Da hatte das Pferdchen Angst bekommen und war kurz herum gesprungen. Die Schere war abgebrochen, die Kutsche kippte um und lag im Graben. Die Straßen waren früher in der Mitte mit Schottersteinen viel höher und nach den Gräben hin auf den Seiten hatten sie mehr Gefälle als heute. Es gab ja in den zwanziger Jahren noch fast keinen Autoverkehr. Der Sally kam mit dem Pferd alleine zurück. Wir Kinder mussten da natürlich hin und schauen. Das Türchen von der Kutsche war aufgegangen und das Glas zerbrochen und die schönen roten Himbeerzuckersteine lagen im Gras herum. Wir sammelten sie für uns ein. Wenn man früher einmal einen Groschen - das waren zehn Reichspfennig - für Süßigkeiten bekam, war das nicht viel. Die Kaffeebohnen lagen auch im Gras. Dem Sally seine Fahrt ging meistens den Ilmesgrund hinauf nach Unter- und Oberstoppel, Dittlofrod und Giesenhain. Aber ehe er jeden Morgen aufbrach zum Handel, fuhr er erst mit seinem Gespann nach Rhina in die Synagoge zum Morgengebet, das war Pflicht. Oberhalb am Mühlgrund bog ein Weg ab, der führte kürzer zur Synagoge und wurde 'Der Judenpfad' genannt. Das Pferdchen war dann schon lange fort, weil sie in der Nazizeit nicht mehr handeln durften. Die Kutsche haben eines Abends jugendliche Nazi-Anhänger aus der Scheune geholt und sie im Weiher bei den acht Bäumen in der Nähe vom Roten Schloss versenkt.
Früher ging das Lebensmittelgeschäft bei 'Kaolines' ganz gut. Die Klär, wie Klara von Sally genannt wurde, hatte im Haus und im Geschäft zu tun. Als der Sohn Werner noch klein war, bat sie Lilli Billing und mich immer einmal auf ihn aufzupassen und mit ihm zu spielen. Wir gingen auch gerne hin. Im Flur stand eine schwarze, mit schönen bunten Bauernblumen bemalte, Truhe. Sie war voll mit Spielsachen. Als Dankeschön bekamen wir immer eine Scheibe vom Bäckerbrot oder ein frisches Brötchen mit Butter und Marmelade geschmiert. Wir hatten ja immer nur das selbst gebackene Bauernbrot im Gemeinde-Holzofen gebacken. Wenn man frische Brötchen haben wollte, musste man diese erst im Voraus bestellen. Dann kam der Judenbäcker Blumenthal (von Rhina) und brachte das Brot und die Brötchen in den Laden. Im Herbst und Winter konnte man auch Schellfische bestellen. Diese kamen dann in großen Weidenkörben an. Sie waren zwischen großen Eisklumpen verpackt und mussten in Neukirchen an der Bahnstation abgeholt werden. Im großen Flur bei Plauts wurden sie dann abgewogen und verteilt. Der Flur war dann immer nass, das Eis taute auf. In den Laden musste man vom Flur auf der linken Seite zwei Stufen höher gehen. Für Öl brachte man eine leere Flasche von zu Hause mit und bekam wieder neues Öl aus einem Kanister, der an der Wand angebracht war, eingefüllt. Genauso war es mit dem Essig: Man musste nur die leere Flasche mitbringen. Zucker und Mehl kaufte man in Papiertüten. Diese wurden daheim im Herdfeuer verbrannt. Da gab es noch keine Müllberge. Es gab auch schon Bohnenkaffee, Malzkaffee, Zichorie (Kaffeeersatz), Waschpulver von Persil und Soda und Scheuersand. Auch Kurzwaren und Wolle gab es zum Nähen von "Ferwes" und auch Manchesterstoff. Auch Porzellan war da. In einem Holzfässchen waren Heringe in Salz eingelegt. Man kaufte je zwei bis fünf Stück, je nach Familiengröße und Geld. Die Heringe mussten erst gewässert werden, sie waren sehr scharf. Dann gab es Heringssalat mit Pellkartoffeln. Das war damals eine Delikatesse.
Im Keller stand ein großer Tank mit Petroleum, wir sagten Lampenfett. Man hatte eine Blechkanne mit einer spitzen Zotte und holte Petroleum, wie man es brauchte. Im Haus hatte man schon elektrisches Licht. Es wurde von einer italienischen Firma 'Gianini' gebaut. Meine Mutter erzählte, dass Reimund Fischer damals im Jahr 1923 schon mitgeholfen hat. Im Stall und in der Scheune hatte man aber noch nicht überall Strom. Die Anschaffung war auf einmal zu teuer. Deshalb brauchte man noch die Stalllaterne. Das Petroleum wurde bei Plauts durch eine Leitung eingefüllt, wie heute beim Heizöl, der Stutzen war abgeschlossen. Das lieferte von Hünfeld ein Herr Malkmus mit einem großen Fass auf einem Wagen mit zwei schweren Pferden davor. Die Pferde mussten schwer ziehen, denn vom Block Hohenwehrda bei der Abfahrt von der Bundesstraße 27 geht es steil die Haunliede hinauf bis zum Grundstück von Kleydorffs (Schloss Hohenwehrda) - dann geht es wieder bergab bis zum Dorf Wehrda.
Im Juni, wenn die Heidelbeeren reif waren, wurden sie von Plauts aufgekauft. Wir mussten als Kinder mit in den Heidelbeerwald. Manchmal hatten wir auch keine Lust dazu. Die Schulaufgaben wurden dann erst abends gemacht, wenn man sehr müde war. Wir mussten immer bald eine Stunde laufen, bis wir in den Heidelbeerwald kamen. In den nahen Buchenwäldern gab es keine und wir mussten in den Rothenkirchener Forst zum Tannenwald laufen. Hatten wir dann glücklich fünf bis sechs Pfund gepflückt, waren wir froh und bekamen fünfundvierzig bis fünfzig Pfennig dafür. Für 1 Pfund wurden damals neun Reichspfennig bezahlt. Im Ort waren noch zwei Ankaufstellen: Wenzels und Ohlendorfs. Da gab manchmal eine Stelle einen Pfennig mehr für das Pfund. Da ging man dort hin. Wir hatten im Wald ein goldgelbes Eimerchen, das banden wir uns mit einem Band um die Taille und pflückten die Beeren dahinein. War der Pflücktopf voll, wurden die Heidelbeeren in einen Weidenkorb ausgeleert. Da wussten wir schon ungefähr, wie viele Pfunde wir gepflückt hatten. In das Eimerchen ging ein Pfund hinein. In solchen kleinen Eimerchen wurde von Plauts Pflaumenmus von Wittich aus der Eifel verkauft. Im Herbst kaufte Sally Zwetschen zentnerweise auf, die wurden dann mit der Bahn in die Eifel verschickt zum Verarbeiten. Wir hatten auch viele Zwetschenbäume, wenn man zehn Pfennig für ein Pfund bekam, war das viel. In Unter- und Oberstoppel gab es die meisten Zwetschenbäume. Das Obst wurde gleich nach Neukirchen an die Bahn gebracht.
Jede Judenfamilie hatte eine Sabbatmagd. Die Juden sagten 'Sabbatgoje'. Im Herbst zu Weihnachten wurden die Frauen extra beschenkt. Der Jude sagte: 'Nu, wenn du Geies hast, musst du Bündel tragen.' (Offenbar ein jiddischer Spruch, Bedeutung mir unbekannt) Bei Familie Plaut war die Sabbatmagd die Elise Stock von gegenüber. Nach ihrem Tod versah den Dienst ihre Tochter Frau Margarethe Kauffunger geborene Stock. Sie machte dann auch das Licht in der Synagoge an und aus. Die alte Frau Amrich, die vorher das Licht bediente, war nämlich auch verstorben.
Im Frühjahr wurde auch bei 'Kaolines' das Passahfest sieben Tage lang gefeiert. Vorher wurde das ganze Haus und sämtliches Inventar gesäubert, damit keine Reste mehr von gesäuertem Brot im Hause waren. Es wurden dann nur die Mazzen gegessen. Wir Kinder aßen sie auch gerne. Hatten wir den Judenfamilien mal am 'Schabbes' auf das Feuer Holz nachgelegt, wenn wir im Vorbeigehen darum gebeten wurden, bekamen wir oft Mazzen dafür, wenn die Zeit da war. Im Herbst wurde das Laubhüttenfest gefeiert. Früher hat sich niemand daran gestört. Doch nach 1933 haben Jugendliche Steine gegen die Bretter geworfen. Die Juden richteten die Hütten auf dem oberen Boden im Haus ein und deckten Ziegel auf. Man musste ja den Himmel mit den Sternen sehen."