Bis zur Befreiung
- Todesmarsch nach Kiel - KZ-Lager - Errettung
"Dann kam am 10. April 1945 der Befehl, dass wir am 11. April einen Fußmarsch nach Kiel in ein neues Lager machen müssten. Wir bekamen als Verpflegung für den Weg, für den vier Tage vorgesehen waren, mit: Ein dreiviertel kleines Brot, ein Stückchen Margarine und etwas Käse - das war die ganze Verpflegung. Die Nächte verbrachten wir in Kuhställen bei Bauern, dort fanden wir auch Steckrüben zum Rohessen.
Die Menschen wurden furchtbar schlapp und müde. Viele baten die Bewachung, man soll sie erschießen, da sie die Füße wund gelaufen hatten und kaum noch weiter konnten. Die Männer marschierten einen Tag später ab, damit sie nicht mit uns zusammen kamen. Aber sie erreichten uns dann doch, weil sie besser marschieren konnten. Und da stellten wir fest, dass inzwischen 36 Mann von Hamburg nach Bergen-Belsen gekommen waren. Die Enttäuschung und Aufregungen der Frauen war furchtbar. Wie wir später erfuhren, haben 22 von diesen dort noch ihr Leben lassen müssen.
Unterwegs hatten wir in Neumünster einen furchtbaren Fliegerangriff bei Tag und einen Großangriff in der Nacht. Es war furchtbar, welche Ängste wir hierbei ausgestanden haben. Joseph war so schwach, dass er unterwegs zusammenbrach. Der SS-Transportleiter meinte: "Auf den brauchen wir nicht zu warten, der stirbt." Joseph hat sich dann aufgerafft und mit letzter Kraftaufwendung weiter geschleppt. Wir durften mit den Männern nicht reden und mussten immer im großen Abstand gehen. Nach 4 Tagen kamen wir ganz erschöpft und müde in Kiel an. Dort wurden wir in ein Vernichtungslager gebracht und mit netten Worten von der SS begrüßt: Gesindel, Judenpack, warum hat man euch nicht im Meer versenkt usw. Nur in diesem Ton wurden wir dort behandelt.
Morgens um 4 Uhr war Wecken, man zog sich im Dunkeln an. Anschließend mussten wir, nachdem man vollständig steif war vom Liegen auf einer kleinen Holzpritsche mit zwei Personen, 2 Stunden, oft im strömenden Regen, Appell stehen. Danach gab es zwei dünne Scheiben Brot und etwas dunkle Brühe, die man Kaffee nannte. Wir mussten alles im Stehen zu uns nehmen, dann ging es auf Kommando in die Stadt. Hier machten wir Aufräumungsarbeiten bei den von Fliegerangriffen zertrümmerten Häusern. Den ganzen Tag hörten wir nur: Los, los, schneller, schneller! Abends kamen wir durchnässt und müde an, da gab es in Wasser halbweich gekochte Steckrüben, die wir dann oft unter Stockhieben empfangen haben.
Die hygienischen Verhältnisse waren dort katastrophal, Wasser zum Waschen gab es überhaupt nicht. Hatte man sich doch mit großer Mühe etwas beschafft und es wurde bemerkt, gab es Stockhiebe. Auch die Männer wurden furchtbar verschlagen. Es hätte keine 14 Tage mehr gebraucht, und niemand von uns wäre mehr am Leben gewesen.
Dann kam am 30. April 1945 der Kommandant und sagte uns, dass wir am nächsten Tag nach Schweden sollten. Dies konnte natürlich niemand glauben, und gleich wurde vermutet, dass es eine "Aktion" geben wird. Aber tatsächlich kamen am nächsten Morgen Autos vom Roten Kreuz und holten uns aus der Hölle. Als wir schon fuhren und ich nach Monaten wieder neben Joseph saß, konnte ich nur fragen: "Joseph, ist es wahr, oder träume ich?"
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Diese außergewöhnliche Befreiung durch das schwedische Rote Kreuz kurz vor Kriegsende ist Teil einer groß angelegten Rettungsaktion mit den "Weißen Bussen". Sie war ein Ergebnis aus Verhandlungen von Graf Bernadotte, Vizepräsident vom schwedischen Roten Kreuz, mit Gestapochef Heinrich Himmler. Die Hilfsaktion galt zunächst den skandinavischen Häftlingen in deutschen Konzentrationslagern, zum Schluss auch anderen Nationalitäten. Bei Hilde Sherman heißt es zur beschriebenen Rettung vom 1. Mai 1945: "Die Verhandlungen führte Graf Folke Bernadotte und sein jüdischer Helfer Masur, die einen Kopfpreis für uns zahlten. Wir alle verließen das Lager als angebliche polnische Fremdarbeiter, Männer wie Frauen." 1)
Anmerkung:
- Vgl. Elisabeth Sternberg-Siebert: Jüdisches Leben im Hünfelder Land – Die Familie Joseph Strauss in Hünfeld, ISBN 13: 978-3-7900-0387-1 Verlag Parzeller, Fulda 2006, S. 186 – 206